Ein blauer Fleck so groß wie ein Mantelknopf. Für Klaus Waßer eine Bagatellverletzung. Nach Wochen entsteht daraus eine zwölf Zentimeter lange Wunde, die dem 77-Jährigen über ein Jahr lang zuschaffen macht. Der Patient ist Diabetiker und leidet unter Durchblutungsstörungen. Das erklärt seine langwierige Heilung. Über sechs Wochen liegt er in der HDZ-Diabetesklinik. Als wirkungsvoll erweist sich eine Wundbehandlung mit Maden.
Die Maden der grünen Schmeißfliege, gleich hundert von ihnen in seiner Wunde am Bein? Eine schreckliche Vorstellung. Klaus Waßer sieht schon das Gewimmel vor sich, sieht dieses Knäuel von Schmarotzern durch sein Gewebe kriechen und sich genüsslich sattfressen an seinem Fleisch, seinem Blut. Ein Albtraum.
Bilder drängen sich ihm auf. Aus Fernsehkrimis, mit Leichen, deren Körper schon von Maden befallen sind. Er überwindet seinen Ekel, er muss zuhören. Das mit den Maden ist schließlich ein ernsthafter Therapievorschlag, eine bewährte Methode, hört er, schlecht heilende Wunden zu behandeln. Prof. Dr. Dr.h.c. Diethelm Tschöpe, Direktor des Diabeteszentrums, legt ihm diese Therapie nahe. Klaus Waßer ist Diabetiker, und seine Wunde an der linken Wade will partout nicht abheilen, seit nunmehr acht Monaten nicht. Sie hat sich in dieser Zeit sogar extrem verschlimmert. Anfangs hatte die Wunde die Größe eines Mantelknopfs, nunmehr ist sie rund zwölf Zentimeter lang und fünf Zentimeter breit.
Die Maden, erfährt der 77-Jährige, haben sich in der Wundtherapie sehr bewährt, vor allem bei Diabetikern und Patienten mit venösen Störungen. Die Insekten werden unter sterilen Bedingungen gezüchtet und helfen bei entzündlichen Prozessen, indem sie chronische Wunden von einem Belag aus abgestorbenen Gewebezellen und Bakterien befreien, dem Gewebemüll. Die Maden sondern ein Sekret ab, das totes Gewebe auflöst und Keime abtötet, selbst hartnäckige Bakterien wie multiresistente Staphylokokken.
Ein Säckchen mit Maden
Die blassgelben Maden wimmeln nicht unkontrolliert durch die offene Wunde, sie befinden sich in einem kleinen Gazesäckchen, dem Bio Bag. Zwei bis vier Tage liegt das transparente Säckchen auf der Wunde. Häufig werden Wunden mit einem chirurgischen Löffel und einem Skalpell gesäubert. Viele Diabetiker sind jedoch von venösen Störungen betroffen, die Heilung ihrer schlecht durchbluteten Wunden ist langwierig und die Behandlung mit chirurgischem Besteck schmerzhaft. Daher werden bei ihnen bevorzugt Maden eingesetzt. Deren Fressattacken auf den Gewebemüll sind erträglich und werden meist wie ein leichtes Kribbeln wahrgenommen. In einem Bio Bag befinden sich je nach Größe der Wunde 50 oder 100 Maden. Das abgestorbene und verflüssigte Gewebe durchdringt die Gaze-Struktur und wird dort von den Maden aufgesaugt.
Wenn sie sich vollgefressen haben, werden sie entsorgt. Keine preiswerte Therapie, eine Made kostet einen Euro. Bei Klaus Waßer werden insgesamt 200 Maden eingesetzt; sein Heilungsprozess ist schließlich langwierig. Diabetiker Waßer leidet zudem an Durchblutungsstörungen. Der Blutrückfluss zum Herzen ist beeinträchtigt – die wesentliche Ursache für seine verzögerte Wundheilung. Hinzu kommt eine Engstelle in der Schlagader im linken Bein, sie wird mit einem Ballon-Katheter beseitigt. Die Wunde ist danach besser durchblutet, doch die Heilung dauert. Rund vier Wochen bleibt der am 30.
Mai 2014 stationär aufgenommene Patient in der Klinik, er ist ans Bett gefesselt. Bewegung würde den Genesungsprozess verlängern. Für Klaus Waßer eine Tortur, er ist ein Hüne, über 1,90 Meter groß, ihm fehlt die tägliche Bewegung, das dauerhafte Liegen zermürbt. Während seines Aufenthalts in der Klinik wird seine Insulin-Versorgung erhöht. Viermal am Tag bekommt er nun eine Insulinspritze. Die höheren Insulingaben stabilisieren den Stoffwechsel, dadurch soll der Heilungsprozess gefördert werden. Nach einer Weile schöpft er Hoffnung auf ein baldiges Ende seines Klinik-Daseins. Wenige Tage später dann die erfreuliche Mitteilung, dass er am 26. Juni entlassen wird. Danach sucht er regelmäßig das Wundheilungszentrum der Klinik zum Verbandswechsel auf.
Der gedehnte Hautflicken
Das Bein muss weiterhin geschont werden. Immerhin, er ist daheim, braucht nicht mehr zu liegen und kann sich frei bewegen. Sehr lange dauert dieser Zustand allerdings nicht. Rund drei Wochen später liegt er schon wieder in der HDZ-Diabetesklinik – mit einer Infektion in der Wunde. Waßer erträgt es mit Humor, Galgenhumor. Als Klinik-Direktor Professor Tschöpe an sein Krankenbett tritt, um ihn über die weiteren Therapieschritte zu informieren, empfängt er ihn mit einem gequälten Lächeln: „Sie sehen, ich lasse nun mal so schnell nichts aus.“
Nun beginnt eine komplexe Therapie. Zunächst wird der Keim identifiziert und dann zu dem Typus das entsprechende Antibiotikum verabreicht. Es folgt eine moderne Wundtherapie. Mehrfach wird ihm mit einem scharfen Chirurgielöffel und einem Skalpell die Wunde gereinigt. Wegen der besseren Durchblutung ist die Prozedur gut auszuhalten. Dann wird die offene Stelle am Bein mit einem schwammartigen Schaum überdeckt. Eine Art Klarsichthülle schließt Wunde und Schaum luftdicht ab. Über einen Schlauch wird von einem angeschlossenen Gerät unterhalb der Wundabdeckung ein Vakuum erzeugt. Der dabei erzeugte Sog zieht die Gewebeflüssigkeiten von der Wunde.
Die restlichen Sekrete werden vom Schaum aufgenommen, der samt Hülle nach einer Woche entfernt wird. Die Wunde ist danach sauber und steril und bekommt nun ihren endgültigen Verschluss. Eine OP steht an. Die Ärzte entfernen aus seinem Oberschenkel einen Streifen Haut, rund zehn Zentimeter lang und zwei Zentimeter breit. Das Transplantat (Mashgraft) wird in ein Gerät mit einer Messerwalze gelegt. Sie stanzt Schlitze in die Haut, die bei der anschließenden Dehnung rautenförmige Strukturen annimmt und nunmehr einem Netz ähnelt, das über die Wunde gelegt und mit ihr an den Rändern vernäht wird.
Am 8. August verlässt Klaus Waßer die Diabetes-Klinik in dem Gefühl, das leidige Problem mit seinem Bein bald hinter sich zu haben. Er steht vor einem zweiwöchigen Aufenthalt auf Sylt. Auch dort ist regelmäßig Wundpflege angesagt. Seine ihn begleitende Lebensgefährtin erfährt von Oberarzt Dr. Marc-Oliver Dannenberg, was beim Verbandswechsel zu beachten ist. Patient Wasser wird geraten, weiterhin sein Bein nicht zu stark zu belasten und Sonne und Sand zu meiden. Die Wunde darf auf keinen Fall damit in Berührung kommen. Seine Insulingaben kann er auf eine Spritze am Tag reduzieren.
Kleine Ursache, große Wirkung
Seit Wochen denkt der ehemalige Manager immer mal wieder an das Sprichwort von der kleinen Ursache und der großen Wirkung. Er hätte sich niemals vorstellen können, dass eine solche Lappalie ein derartiges Drama nach sich ziehen würde. Es war nur ein kleiner Stoß, der alles ausgelöst hatte. Seine Lebensgefährtin hatte morgens den Geschirrspüler ausgeräumt, er übersah die geöffnete Klappe und stieß gegen die Kante. Er krempelte das Hosenbein hoch – keine blutende Wunde, ein Hämatom. „Ein kleiner blauer Fleck nur“, sagt Klaus Waßer, „damit geht man doch nicht gleich zum Arzt.“ Als Folge seiner Durchblutungsstörungen hatte sich Wasser in seinen Beinen gebildet, er musste regelmäßig ein Medikament zur Entwässerung (Diuretikum) schlucken. Gelegentlich suchte er eine Physiotherapeutin auf, die ihm eine Lymphdrainage verabreichte.
Der Therapeutin fiel auf, dass sein Hämatom nicht abheilte und empfahl ihm, zu einem Arzt zu gehen. Die Lymphflüssigkeit, hörte er von ihm, dürfe nicht in die Wunde geraten und begründete damit den besonders stramm gewickelten Verband, den er ihm anlegte. Gut gemeint ist nicht immer hilfreich. Knapp ein halbes Jahr lang suchte Klaus Waßer die Praxis auf und ließ sich dort die Wunde versorgen. Und immer mit einem strammen Verband, zu stramm, wie sich später herausstellt. Wegen seiner arteriellen Störung ist die Durchblutung der Wunde ohnehin eingeschränkt und wurde durch den Verband noch zusätzlich behindert. Die Wunde konnte darunter nicht abheilen, wurde stattdessen immer größer. Er ließ sich schließlich in das Diabeteszentrum in Bad Oeynhausen einweisen.
Nach Sylt sucht der Patient wieder das HDZ NRW auf. In den Rauten des Transplantats hat sich seither ein hauchdünnes Gewebe gebildet, das äußerst empfindlich und leicht verletzbar ist. Weiterhin ist Geduld gefragt. Von den Ärzten im Wundheilungszentrum hört er, dass es noch bis zu sechs Wochen dauern kann, bis seine Wunde abgeheilt ist. Er fiebert seit langem danach, endlich wieder Golf zu spielen oder in seinem großen Garten zu arbeiten. Klaus Waßer weiß aber auch, dass er damit den Heilungsprozess gefährden würde. „Jetzt habe ich schon über ein Jahr damit zu tun“, sagt er, „da kommt es auf ein paar Wochen nun nicht mehr an.“